Erinnerungen von Harald Stoffels
„Wilde Spaß-Partys mit fünf Kellerkindern und vier Elchen“


„Der Partykeller in der Leutesdorfer Kirchstraße war bald nach seiner Eröffnung im November 1973 der meistbesuchte seiner Art in der ganzen Region. Aber er wäre niemals ohne einen Konkurrenten entstanden, den es damals schon einige Jahre gab: den Keller der Brüder Selt in der Kleinen Pützgasse 5. Und der „Selte-Keller“, wie wir ihn nannten, galt als „erotisch verrucht“. Mit anderen Worten: Er genoss unter Jugendlichen den allerbesten Ruf – dort mitfeiern zu dürfen war hochbegehrt. Sonst war im Dorf nicht viel los für junge Leute. Daraus folgt: Wer nicht zur Pützgassen-Clique gehörte – also nicht zu deren Partys eingeladen wurde – war entsprechend neidisch und genervt.
So ging es im Frühjahr 1973 auch zwei 17jährigen Jungs. Der eine von ihnen, Wolfgang Selt – ein Vetter der Pützgassen-Selts –, war auf dem Weg, Ingenieur zu werden. Er besaß großes technisches Verständnis, konnte zum Beispiel mit einfachen Mitteln gute Lautsprecherboxen und passable Verstärker bauen. Außerdem war Wolfgang generell mit handwerklichem Talent gesegnet. Sein bester Freund war ich, ein eher unpraktischer Typ. Aber mit dem immensen Selbstbewusstsein des auf Rock und Pop spezialisierten Jung-Autors ausgestattet, der gerade für 20 Mark sein erstes Musik-Manuskript an den Südwestfunk verkauft hatte. Ich hatte den Kopf voller verrückter Ideen, wie ein „Rock-Keller“ aussehen müsste und wie er erfolgreich zu führen wäre. Später stieß noch Hermann-Josef „Jupp“ Klein hinzu, ein eher stiller, schlaksiger junger Mann selben Alters, der später Chemie-Ingenieur wurde und leider schon 2019 verstorben ist. Dann beschlossen eines Abends im Juni Wolfgang und ich, endlich selbst etwas gegen die dörfliche Ödnis zu tun. Und Wolfgangs Vater Franz (nach ihm taufte der Volksmund den Keller später ‚Bei Pop-Fränz‘) gab uns tatsächlich die Erlaubnis, den Gewölbekeller unter seinem Haus komplett umzubauen! Und half auch noch mit!
So legten wir also in den Kartoffelkeller mit dem gestampften Erdboden zunächst gemeinsam einen Estrich. Dann wurde viel gebaut und gemauert (Theke, Nischen mit Wagenrädern und Baumstämmen, Kamin für den Kanonenofen), anschließend kamen Kabel und Elektrik (Strom, Musikanlage, Stroboskop), am Ende Deko und Ausstattung (Poster, Wandmalerei, Spiegel, Objekte – eine knallrot gestrichene Beethoven-Büste aus Beton -, alte Sofas und Möbel vom Sperrmüll). Gut drei Monate dauerte das. Schließlich rührten wir die Trommel für unsere Premiere Ende November. Und waren nervös: Würde jemand kommen? Ja!
Von Anfang an gehörte Offenheit zu unserem Konzept. Reine Freundeskreis-Feten wollten wir nicht. Ich träumte von den wilden Hippie-„Tanzschuppen“ in München-Schwabing, die ich bei einer Klassenfahrt kurz erlebt hatte und die wir manchmal im Fernsehen in der damals populären Krimiserie „Der Kommissar“ vorgeführt bekamen. Viele Leute – möglichst Mädchen, versteht sich – sollten also in unseren Keller kommen. Auch Fremde – wir wollten überrascht werden! Deshalb hingen wir in den Nachbarorten, in Neuwied und im Westerwald Plakate auf. Und es klappte: 1974 feierten bei uns bis zu 80 junge Frauen und Männer je Party, wie das dokumentarische „Kellerbuch“ in Fotos, Unterschriftenlisten und Texten belegt.
Wir „Kellerkinder“, wie man uns damals nannte, erweiterten bald unseren Kreis. Zwei neue Mitglieder kamen hinzu: Horst Peter Selt (später Winzer) und Rudolf Kerres (Lehrer in spe). Längst war aus der Konkurrenz mit dem Pützgassen-Keller Freundschaft entstanden: Die vier „Elche“, wie dessen Kern-Clique sich nannte (Rudi Selt, Winfried „Winnie“ Mertesacker, Rudolf „Brei“ Breidbach, Klaus „Atze“ Riemenschnitter), besuchten regelmäßig die Kirchstraßen-Partys und umgekehrt.
Noch heute steigt mir der typisch modrige, feuchte, manchmal leicht schimmelige Geruch in die Nase, wenn ich an den uralten Gewölbekeller denke. Ich glaube aber nicht, dass sich irgendjemand einmal darüber beschwert hätte. Ich rieche auch noch den Rauch aus dem alten Holzofen, der nicht immer perfekt zog und trotzdem unser ganzer Stolz war. Nach Mitternacht, wenn die meisten Mädchen wieder gegangen waren, brieten wir „zurückgelassenen“ Jung-Männer traditionell eine große Gusspfanne mit Eiern. Als Stärkung für den Rest der Nacht: Den Keller verließen wir oft erst bei Tageslicht. Einmal, gegen zehn Uhr am Sonntag Morgen, sah ich von unten meine Mutter im Eingang des Kellers stehen, die „nachsehen“ wollte, „ob du noch lebst“. Das war mir vor meinen Freunden natürlich peinlich. Aber insgesamt haben auch meine Eltern das „Projekt“ Party-Keller immer unterstützt.
Natürlich ging es „Bei Pop-Fränz“ nicht in erster Linie darum, Rock-Musik zu hören, Bier zu trinken, zu Rauchen und Gespräche zu führen. Auch nicht darum, Geld am Verkauf des Billig-Biers von Marken wie „Casino“ oder „Thier“ zu verdienen (wir machten nie spürbaren Gewinn, was niemand verstand – auch wir nicht). Vor allem wollten wir Mädchen kennenlernen und dann auch möglichst etwas mehr als ein nettes Geplauder erleben. Es geschah in diesen Jahren auch das Eine oder Andere im Keller „Bei Pop-Fränz“, was weiterhin dort bleiben soll. Kurz andeuten will ich nur die Geschichte, wie der Hausherr Franz Selt einmal am späten Abend in seiner Badewanne ein Pärchen fand. Es war kein Wasser in der Wanne – die beiden waren auf andere Weise sehr eindeutig aktiv. Das ging dann selbst dem sonst überraschend toleranten „Pop-Fränz“ zu weit. Vermerkt werden soll aber auch, das in unserem Keller eine Reihe Ehen gestiftet wurden, von denen einige bis heute halten.
Nur einmal, an Silvester 1974, tauchte kaum ein Mädchen im Kirchstraßen-Keller auf. Und auch sonst war ausnahmsweise wenig los. Was ein paar junge Leutesdorfer dazu brachte, aus Frust einen großen Teil der Einrichtung zu zerschlagen. Auch unersetzliche Dinge, die man uns gespendet hatte, wie die Schlussleuchte eines Eisenbahn Waggons aus den 40er oder 50er Jahren. Natürlich brachten wir den Keller später wieder in Schuss und feierten auch noch noch bis 1977 Partys, doch der Glaube an völlig offene, friedliche Spaß-Feten hatte Silvester 1974 einen deutlichen Dämpfer erhalten.
Dazu passte irgendwie, dass Neujahr 1975 ein Gesetz in Kraft trat, nach dem man nicht mehr erst mit 21, sondern schon mit 18 Jahren volljährig wurde. Nun waren meine Freunde und ich also erwachsen. Zumindest vor dem Gesetz.“